Spongiöse Kleinhirndegeneration mit zerebellarer Ataxie (SDCA1)
09.09.2022 09:38

von DR. MED. VET. SUE CHANDRARATNE

Spongiöse Kleinhirndegeneration mit zerebellarer Ataxie (SDCA1) ist eine neurodegenerative Erkrankung bei Belgischen Schäferhunden.

Diese Erkrankung wird durch eine Punktmutation c.986T>C im Gen KCNJ10 verursacht. Dieses Gen codiert Kaliumkanäle, die im zentralen Nervensystem, in Augen, im inneren Ohr und Nieren vorkommen. Störung der Funktion des Kaliumkanals in der Kleinhirnrinde führt zur Anhäufung von Kalium im Extrazellulärraum, Reduzierung des Membranpotentials und zum nachfolgendem Auftreten von neurologischen Anfällen. In der Studie zum Malinois wurden klinische Zeichen und histologische Befunde primär im Kleinhirn lokalisiert.

Das Kleinhirn ist wichtig für das Gleichgewicht und die Koordination. Gemeinsam mit dem Großhirn koordiniert es die Muskeln und somit die Bewegungen. Außerdem trägt es wesentlich dazu bei, dass die Muskelspannung des Körpers erhalten bleibt. Während das Großhirn vorrangig für bewusste Bewegungen zuständig ist, steuert das Kleinhirn bereits gelernte Bewegungsabläufe.

Die ersten Symptome können schon vor einem Alter von 8 Wochen auftreten. Es wird beschrieben, dass die Symptome bei Welpen meistens zwischen der 4,5 und 8,5 Lebenswochen vom Züchter bemerkt werden. Die betroffenen Welpen zeichnen sich durch einen breitbeinigen Gang mit den Hinterextremitäten aus. Dadurch versuchen die Welpen die Stabilität zu halten und die Bewegungskoordination zu verbessern. Zudem wurde bei den kranken Welpen Zittern, Stolpern, Taumeln, Herumspringen und Umfallen beobachten. Muskelkrämpfe durch den erlebten Stress oder nach anstrengender Bewegung können zudem einzeln auftreten. Die betroffenen Welpen müssen aufgrund der schlechten Prognose meistens noch vor der 20. Woche eingeschläfert werden. Von einem Fall in Amerika wurde berichtet, dass ein Geschwisterpaar den ersten Geburtstag erlebt hat.

Die SDCA1 ist eine autosomal rezessiv vererbte Krankheit. Die Geburt von betroffenen Welpen kann sicher ausgeschlossen werden, wenn bei Verpaarungen darauf geachtet wird, dass mindestens eines der beiden Zuchttiere frei von dem Gendefekt ist.

Beim Menschen gibt es eine Erkrankung mit dem gleichen Gendefekt (Mutation im KCNJ10-Gen): Das SeSAME-Syndrom tritt im Kleinkindalter und der Neugeborenenzeit auf und ist gekennzeichnet durch zerebrale Krämpfe, Schallempfindungs-Schwerhörigkeit, Ataxie, intellektuelles Defizit und Elektrolytstörungen. Die Vererbung ist auch hier autosomal-rezessiv.

Betroffen sind insbesondere die Leistungslinien des Belgischen Schäferhundes – vor allem die Varietät Malinois.

Die Statistik aus unserer Datenbank, die Zahlen werden regelmässig aktualisiert:



Genetisches Schema der involvierten Tiere der Studie und deren Verwandtschaft





Fallbeispiel 1: „C-Wurf unter schwarzer Flagge”



2012 machte Mareike Wollschläger öffentlich, dass in ihrem C-Wurf 3 von 6 Welpen mit 5 Wochen fortschreitende Symptome mit Anfällen und Ataxie hatten. Die betroffenen Welpen mussten mit 8, 9,5 und 10 Wochen eingeschläfert werden.

Zitat
Die Anfälle begannen im Alter von etwa 5 Wochen. Kurz nach Beginn der Fütterung fing der jeweils betroffene Welpe an sich leicht zu verkrampfen und sackte mit dem Hinterteil weg. Manchmal zitterte der Kopf auch ein wenig und die Bewegungen waren unkoordiniert. Der Zwerg blieb aber voll ansprechbar und schien auch keinerlei Befindlichkeitsstörung zu haben – er/sie fraß einfach im Sitzen oder Liegen weiter und schien überhaupt nichts Ungewöhnliches zu bemerken. Es sah fast ein wenig wie ein kurzes Kreislaufproblem aus.
Relativ bald stellten sich ganz unabhängig von den Anfällen erste leichte Bewegungseinschränkungen ein – die Koordination der Hintergliedmaßen wurde schlechter.

http://www.malinois-unter-schwarzer-flagge.de/html/ataxie







Sie wurde damals wegen der Veröffentlichung massiv angefeindet und bekam Anwaltsdrohungen etc., aber sie hat sich durchgekämpft und dank ihr, in Zusammenarbeit mit Nina Helbing (Fallbeispiel 2), gibt es heute den SDCA-1 Gentest, damit niemand mehr die furchtbaren Wochen durchmachen muss, die sie damals mit ihren Welpen durchgemacht hat. Vielen Dank Mareike und Nina für euren Einsatz!!

Fallbeispiel 2: „D-Wurf von Malihatten“



Wurfstärke 4/1

Betroffene Welpen 1/1

Erste Symptome konnten bei einer Hündin mit 6 Wochen nach einer Entwurmung wahrgenommen werden. Sie zeigte einen unsicheren Gang, stolperte über ihre eigenen Pfoten, sabberte und zeigte Krämpfe im Gesicht. Das Sabbern hielt etwa 30 Minuten an, die Krämpfe im Gesicht etwa 5 Minuten. Danach war die Hündin wieder völlig normal und zeigte in den darauf folgenden 11 Tagen keine Symptome. Nach der Impfung fing sie wieder an zu krampfen, diesmal generalisiert, etwa 5 Minuten, sabberte etwa 20 Minuten und zeigte danach immer wieder Probleme im Gangbild (stolpern, oder umfallen in Wendungen). Mit zunehmendem Alter wurden die Probleme beim Laufen allgegenwärtig. Stresssituationen wie Auto fahren oder Boxentraining lösten fokale Anfälle aus, je nach Stresspegel hielten die Anfälle zwischen 2 Minuten bis hin (der letzte) 15 Minuten. Die Hündin wurde mit 12 Wochen eingeschläfert.

Bei einem Rüden traten die Symptome erst im Alter von 9 Wochen auf (sehr milde) und zeigten sich erst nur in einem „tollpatschigen“ Gang, von Woche zu Woche wurde das Gangbild jedoch schlimmer. Der Rüde hatte aber keine Anfälle. Der Rüde musste mit 14 Wochen eingeschläfert werden, da er nicht mehr gehen konnte.

Auffällig war auch das die betroffenen Welpen ab dem Alter von 8 Wochen extrem viel fressen mussten, um Gewicht zu halten.

Nachfolgend findet ihr den Sektionsbefund eines Welpens:





Fallbeispiel 3: Malinois-Welpe



Im September 2021 wurde ein Malinois Welpe mit ca. 7-8 Wochen mit neurologischen Ausfällen in einer Klinik vorgestellt: dort gaben die Halter an, dass er diese bereits seit der vierten Wochen hätte, es aber zeitweise besser wurde. Der Welpe wurde bereits mit vier Wochen in Serbien abgegeben und kam mit 6 Wochen von Serbien nach Deutschland.

Da der Hund neurologische Symptome zeigte und im Haushalt Kinder lebten (Ausland, Tollwutquarantäne), wurde ein Tierheim durch das Veterinäramt beauftragt den Hund auf einer Isolationsstation unterzubringen und ihn aus der Tierklinik abzuholen. Der Welpe konnte kaum stehen und sitzen, zitterte, war aber dabei durchaus ansprechbar.
Nach Recherchen und dem Rat einer Tierärztin wurde relativ schnell Blut abgenommen, um auf SDCA zu testen. Der Welpe war in den ersten Tagen nicht in der Lage zu stehen, gehen oder sitzen, dies änderte sich nach einiger Zeit und plötzlich stand er morgens. Schritt für Schritt übten wir das Laufen unter Quarantänebedingungen – es wurde immer besser. Zwischendurch hatte er immer wieder Muskelkrampfanfälle / epileptische Anfälle, die jedoch schnell vorüber gingen.
Dieser kleine Hund hatte einen stärkeren Überlebenswillen als eine ganze Armee. Nach 14 Tagen kamen die Ergebnisse und es war klar, dass er an SDCA1 erkrankt war.

Doch dem Welpen ging es immer besser – die Quarantäne war vorbei und er durfte zu einer Mitarbeiterin des Tierheims umziehen. Bei konnten keine weiteren Anfälle mehr beobachtet werden und sie beschloss ihm so lange ein schönes Leben zu bieten, solange er eben kann.

Bis der Welpe zum ersten Mal „alleine“ gelassen werden musste bzw. in fremder Umgebung, lief alles wunderbar. Dort hatte er den ersten Anfall in der Obhut einer Pension. Abends wieder zurück bei der Tierheimmitarbeiterin kamen dann weitere Anfälle, trotz verabreichter Diazepam Höchstdosis (Antiepileptikum) geriet er in den Status Epilepticus und musste in der Nacht euthanasiert werden.

Zusammenfassung:



Anbei findet ihr einen Zusammenschnitt aus Fallbeispielen. Die erste Videosequenz zeigt Dallas von Malihattan, der vor der Testmöglichkeit zur Welt kam (Fallbeispiel 2). Die anderen Hunde sind leider aktuelle Fälle. Die Welpen sterben nicht zwangsläufig bereits beim Züchter. Diese Hunde wurden an Privathundehalter verkauft oder beim Tierschutz (Fallbeispiel 3) abgegeben. Hätten ihre Züchter die Eltern getestet, hätte ihr Leid verhindert werden können.



Herzlichen Dank an alle, die uns mit Videomaterial und Fallbeschreibungen unterstützt haben.





Quellen:

Kleiter, M., Högler, S., Kneissl, S., Url, A., & Leschnik, M. (2011). Spongy degeneration with cerebellar ataxia in Malinois puppies: a hereditary autosomal recessive disorder?. Journal of veterinary internal medicine, 25(3), 490-496.
Mauri, Nico, et al. „A Missense Variant in KCNJ10 in Belgian Shepherd Dogs Affected by Spongy Degeneration with Cerebellar Ataxia (SDCA1).“ G3: Genes| Genomes| Genetics (2016): g3-116.
Van Poucke, M., Stee, K., Bhatti, S. F., Vanhaesebrouck, A., Bosseler, L., Peelman, L. J., & Van Ham, L. (2017). The novel homozygous KCNJ10 c. 986T> C (p.(Leu329Pro)) variant is pathogenic for the SeSAME/EAST homologue in Malinois dogs. European Journal of Human Genetics, 25(2), 222-226.
laboklin.de/de/leistungen/genetik/erbkrankheiten/hund/spongioese-degeneration-mit-cerebellaerer-ataxie-typ-1-sdca1/
http://www.genomia.cz/de/test/sdca1/
http://www.orpha.net/consor/cgi-bin/OC_E...e&Expert=199343
pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/29722015/
ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5386501/

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